Komm, gieß' mein Glas noch einmal ein
Reinhard Mey / Reinhard Mey: Aus meinem Tagebuch (1970)
Komm, gieß‘ mein Glas noch einmal ein |
Mit jenem bill‘gen roten Wein, |
in dem ist jene Zeit noch wach, |
Heut‘ trink ich meinen Freunden nach. |
Bei diesem Glas denk‘ ich zurück |
An Euch, mit denen ich ein Stück |
Auf meinem Weg gegangen bin; |
Mit diesem Glas trink‘ ich im Sinn |
Nach Süden, Osten, West und Nord |
Und find‘ Euch in Gedanken dort, |
Wo immer Ihr Zuhause seid, |
Seh‘ die Gesichter nach der Zeit |
In meinem Glas vorüberzieh‘n, |
Verschwommene Fotografien, |
Die sich wirr aneinanderreih‘n: |
Und ein paar Namen fall‘n mir ein. |
Karl, der sich nicht zu schade fand, |
Der, wenn es mulmig um mich stand, |
So manche Lanze für mich brach. |
Auf Klaus, der viel von Anstand sprach |
Und der mir später – in der Tat, |
Die beste Pfeife geklaut hat. |
Mein Zimmernachbar bei Frau Pohl, |
Der nach Genuss von Alkohol |
Mein Zimmer unerträglich fand |
Und alles kleinschlug kurzerhand. |
So übte der sich damals schon |
Für seine Weltrevolution. |
Dem stets betrunk‘nen Balthasar, |
Der immer, wenn er pleite war, |
Seinen Kredit bei mir bekam, |
Und wenn ich mich selbst übernahm, |
Dann zahlte stets der Franz für mich, |
Bis Balthasar die Schuld beglich. |
Volker und Georg, die mit mir |
Brüderlich teilten Schnaps und Bier, |
Die fahr‘n zu dieser Zeit voll Rum |
Auf irgendeinem Pott herum, |
Auf irgendeinem Ozean |
Und spinnen neues Seemannsgarn. |
Verwechs‘le ich Euch, vergaß ich Dich, |
Lässt mich mein Gedächtnis im Stich? |
Vieles ist schon so lange her, |
Kenn‘ ich nicht alle Namen mehr, |
So kenn‘ ich die Gesichter doch |
Und erinnere mich noch. |
Und widme Euch nicht wen‘ger Raum, |
Geschrieben haben wir uns kaum. – |
Denn eigentlich ging keiner fort: |
In einer Geste, einem Wort, |
In irgendeiner Redensart |
Lebt Ihr in meiner Gegenwart. |